Der Krieg in der Ukraine hat mein Leben auf den Kopf gestellt, auch wenn ich nicht direkt vom Kriegsgeschehen betroffen bin. Vor allem hat dieser Krieg und solche Aussagen wie “In Europa hatten wir schon lange keinen Krieg” zum Nachdenken über meine Erfahrungen mit dem Krieg gebracht. Lange Zeit dachte ich, dass ich mit den Kriegen nichts zu tun habe.
Gestern hat Alexandra Polunin ihre Gedanken über die Kriege, ihre Migrationsgeschichte und deren Auswirkungen auf ihre Selbstständigkeit aufgeschrieben.
Meine eigene Geschichte wurde präsent. Ich habe erkannt, dass sogar Migrationsgeschichten aus einem Land stammend sich unterscheiden können.
Sie war acht, ich siebzehn, als unsere Familien Sibirien verlassen und als Russlanddeutsche nach Deutschland ausgewandert sind. So haben wir auch unterschiedliche Kriegs-Erfahrungs-Geschichten.
Ich habe in diesem Blogartikel meine Geschichte der Kriegsbegegnungen aufgeschrieben und darüber reflektiert, wie es mich beeinflusst hat.
Meine erste Begegnung mit dem Krieg: Anfang der 80-er Jahre, Sibirien.
Ich war noch ein kleines Kind und unser Nachbar, ein junger Mann, ist aus dem Afghanistankrieg zurückgekommen. Ich kann mich an keine besonderen Heldengeschichten erinnern, aber es kann auch sein, dass ich dafür einfach noch zu klein war. In den Kinofilmen über diese Zeit habe ich sehr wohl “unseren heldenhaften Einsatz in Afghanistan” wahrgenommen.
Meine zweite Begegnung mit dem Krieg: Herbst 1994.
Ich ziehe zum Studium 500 km weiter nach Tchita. Wir – drei 17-jährige Studentinnen, die sich ein Zimmer im Wohnheim teilen, gehen eines Abends spazieren und treffen auf zwei junge Männer in Soldatenuniform. Für mich sehen sie etwas komisch, unpassend aus – sehr jung für diese schwere winterliche Soldatenuniform. Sie laden uns ein, gemeinsam zu feiern.
“Wir ziehen in den Krieg nach Tschetschenien, wer weiß, was morgen ist”, sagen sie.
Wir sagen ab.
Später sprechen wir darüber, wie gut es ist, dass wir erst in diesem Jahr unsere Schulbildung abgeschlossen haben. Wären wir ein Jahr älter, würden unsere Klassenkameraden ebenfalls in den Krieg ziehen müssen.
Einige Wochen später erfahre ich von Aufstand der sibirischen Mütter, die ihre Söhne, die mit 18 Jahren zum Militär einberufen und direkt ohne Ausbildung in den Krieg geschickt worden waren. Die Regierung wollte das vertuschen. Das menschliche Leben ist nicht viel wert.
Im Juni 1995 bin ich nach Deutschland ausgewandert und musste mich mit Integration beschäftigten.
Meine dritte Begegnung mit dem Krieg: Ende der 90-er Jahre, albanische Geflüchtete in Deutschland.
Jugoslawienkrieg. Sehr viel wusste ich nicht davon. Es kann sein, dass ich einfach mit anderen Themen beschäftigt war: Liebe, einen guten Zahnarzt finden und nicht viel Deutsch sprechen müssen. In meinem Bekanntenkreis habe ich ein paar junge Frauen gekannt, die albanische Geflüchtete geheiratet haben, angeblich, weil diese die deutsche Standbürgerschaft kriegen wollten. Wir als Russlanddeutsche konnten das bitten. Diese Erinnerung wurde wieder lebendig, weil ich mit einer Frau, die aus der Ukraine geflüchtet ist, gesprochen und gemerkt habe, dass sie geflüchtete Menschen sehr wohl in “gute” und “weniger gute” Geflüchtete kategorisiert. Ich gehöre nach ihrer Kategorisierung zu guten Migranten: gebildet, weiß und nicht Islam-zugehörig. Das hat mich sehr zum Nachdenken gebracht.
Meine vierte Begegnung mit dem Krieg: Ende der 90-er Jahre, Wehrmachtausstellung in Aachen
Ich bin im Eichendorf-Kolleg und hole das deutsche Abitur nach. Wir fahren mit unserer Deutschlehrerin zur Wehrmachtsausstellung nach Aachen und sehen uns Bilder von Naziverbrechen an. Ich bin zutiefst beeindruckt. Unsere Deutschlehrerin erzählt uns, wie schwer es für junge Deutsche ist, sich mit Naziverbrechen auseinanderzusetzen, weil ja zum Teil die Großeltern direkt daran beteiligt waren. Ich kann es mir nicht vorstellen. Aus meinem Land kenne ich nur Heldensagen.
Einige Jahre später sitze ich das ganze Wochenende und schaue mir eine deutsche Dokumentation auf VOX an, wo deutsche und russische Kriegsveteranen über den Krieg reden. Ich bin sehr beeindruckt.
Meine fünfte Begegnung mit dem Krieg: laut Wikipedia hat dieser Krieg bereits im Februar 2014 begonnen.
Ich schäme mich, ich habe das nicht erkannt. Ich frage mich jetzt, was hat mich damals so beschäftigt, was habe ich gemacht, dass dieser Krieg an mir vorbeikam. Dass ich das, was in der Ukraine passiert, nicht als Krieg gesehen habe.
Den Krieg, der am 24. Februar 2022 begonnen hat, habe ich sehr stark wahrgenommen und eigentlich sofort als Krieg gesehen. Die erste Zeit habe ich nur geweint und mir überlegt, wie ich es meinem Sohn sage. Wie kann ich meinem Sohn erklären, dass das Land wo ein Teil seiner Familie geboren wurde und immer noch lebt, das Land, dass ich ihm immer positiv dargestellt habe, einen Krieg angefangen hat. Ich habe mich öffentlich nicht sehr aktiv gegen Krieg eingesetzt. Ich war gelähmt und sprachlos. Ich habe in den letzten Jahren viele Kontakte und russischsprachige Kundinnen aus allen möglichen Ländern kennengelernt, war 2017 auf einer internationalen Konferenz in Sankt-Petersburg und 2019 auf einer ebenfalls internationalen Weiterbildung für helfende Berufe am Altai. Niemals haben wir über Krieg in der Ukraine gesprochen oder uns darüber unterhalten. Ich frage mich – was war los mit mir? Wer waren diese Menschen, die mit mir nicht über Ukrainekonflikt gesprochen haben?
Oft waren es Onlineunternehmerinnen, die ihr Business grenzenlos aufgebaut haben und einfach Ressourcen aus der ganzen Welt für die Arbeit genutzt haben.
Es waren Solo-Unternehmerinnen, die vermutlich so wie ich 2014 sich ausschließlich mit dem eigenen Business und Familie beschäftigt haben. Viele Fragen kann ich für mich immer noch nicht beantworten. In den letzten Monaten lerne ich sehr viel über Russland, bin aufmerksam.
Meine jüngste Begegnung mit dem Krieg: Vorgestern las ich darüber, dass Israel im Krieg ist.
Ich erfahre darüber aus LinkedIn, weil einige Bekannte von mir sind, aus Russland nach Israel geflüchtet und mit einem weiteren Krieg konfrontiert wurden. Ich kann es mir nicht vorstellen, wie es diesen Menschen geht.
Uf, sehr viele Kriegsgeschichten für eine 46-jährige, denke ich. Gleichzeitig kann ich auch meine britischen Kolleginnen verstehen, die mir berichten, dass sie eigentlich keinen Einfluss auf ihr Business durch den Krieg in der Ukraine erkennen. Ja, das kann auch sein.
Das darf auch sein.
Seitdem ich in Wien lebe und arbeite, habe ich natürlich viel Begegnung mit unterschiedlichsten Menschen und unterschiedlichsten Migrationsgeschichten. Was mich immer wieder ärgert ist , wie schnell bestimmte Gruppen verurteilt werden und in gute und weniger gute aufgeteilt.
Sind Männer, die aus der Ukraine geflüchtet sind und nicht kämpfen wollten, gut oder weniger gut?
Sind aus Syrien geflüchtete Frauen mit 5 Kindern ohne Ausbildung gut oder weniger gut?
Sind Russen, die in Russland leben und nicht gegen Putin protestieren, gut oder weniger gut?
Es sind immer noch mehr Fragen als Antworten.
Und das ist auch gut so.
Trotzdem glaube ich an das Gute in Menschen.
Jeder Mensch ist wichtig
Jeder Mensch gehört gehört und gesehen zu werden.
Als ich diesen Artikel fertig geschrieben habe, erreichte mich ein Newsletter von Pioneers of Change mit dem Beitrag von Vivian Dittmar. Ich möchte sehr gerne diesen Beitrag mit dir teilen. Mensch sein. https://campus.lebensweise.net/wp-content/uploads/2022/10/Artikel-Pro-Menschlichkeit-min.pdf
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In meinem Blog dreht sich alles um Frauen, die ihren Weg gehen. Die Themen sind so vielfältig, wie das Leben: Vereinbarkeit von Familie und Karriere, Selbstständigkeit und berufliche Herausforderungen der Frauen, die sich nicht zwischen Kinder und Karriere entscheiden möchten, Hochsensibilität und leben mit besonderen Kindern. Dazu gibt es Einblick in meine Onlinecoaching-Praxis: Case Studies und Selbstcoachingtools, die karriereorientierte Frauen dabei unterstützen, ein glückliches und selbstbestimmtes Leben zu führen.