Meine Suche nach Integration

„Ich habe an dich gedacht“, sagte Veronika. Daran, dass ich als waschechte Wienerin in meinem Leben sehr wenige Gelegenheiten habe, Menschen wie dich kennenzulernen…


Wann ist Integration erfolgreich vollzogen?

Ist das der Zeitpunkt, ab dem ein junger Mensch die Entscheidung seiner Eltern, Russland zu verlassen und nur mit zwei Koffern in den Westen zu ziehen, endgültig akzeptiert und erkennt, dass es keine 100-prozentig richtigen Entscheidungen im Leben gibt?

Ist das der Zeitpunkt, ab dem die Aussage der eigenen Tante, dass eine junge Frau doch die Ausbildung zur Friseurin machen sollte, damit sie fest auf eigenen Beinen stehen kann, obwohl diese junge Frau in einem anderen Land bereits ein Studium begonnen hat, nur als eine lustige Anekdote in der Karrieregeschichte dieser jungen Frau existiert?

Ist das der Zeitpunkt, ab dem eine Frau sich wieder den russischen Kochrezepten wendet und eine richtig köstliche Bortsch-Suppe kocht, ohne in Nostalgie zu verfallen? Die schmeckt halt einfach gut.


Vor über 23 Jahren habe ich das Land verlassen, wo ich geboren und aufgewachsen bin. Vor drei Wochen habe ich mich dabei ertappt, dass ich bei den Vorstellungsrunden in meinen Trainings nicht mehr sage, dass ich aus Russland komme.

Ich habe gelernt, nicht nur meine kulturellen Werte zu akzeptieren und zu verteidigen, sondern auch die anderen Menschen so zu akzeptieren wie sie sind.

Dazwischen liegen Jahre der Selbstfindung, der Suche nach eigenen Identität als Frau, als Mensch und Gestaltung des eigenen Lebensweges.


Deutsche mit russischen Wurzeln oder Russin mit deutschen Wurzeln – das ist hier die Frage

Die persönliche Konfrontation mit meiner Herkunft fand für mich das erste Mal in einer kleinen russischen Stadt in dem Gebiet, der sich zwar „Hinter dem Baikalsee“ nennt, aber doch einige Tausende Kilometer vom Baikalsee entfernt ist. Mit sechzehn durfte ich meinen ersten sowjetischen Pass beantragen. Stolz marschierte ich auf´s Amt, um ein paar Angaben zu machen.

Ich bin erwachsen! Dieses Gefühl kennt jeder, egal in welchem Land wohnhaft.

Die Beamtin hat mir ein paar Fragen gestellt und dann kam diese Frage: „Welche Nationalität?“ Ohne lang nachdenken zu müssen, habe ich natürlich „Deutsche“ gesagt. „Ah so, du bist Deutsche? Dann haue doch ab zurück nach Deutschland!“

Diese Aussage hat mich nicht so sehr gestört. Es hat mich viel mehr gestört, dass diese Frau mich – eine erwachsene Person, die heute ihren ersten sowjetischen Pass beantragt – geduzt hat. Ich habe schon immer gewusst, dass mein Vater aus einer deutschen Familie stammte.

„Ja, wir fahren auch bald nach Deutschland“, habe ich geantwortet, obwohl für mich ein Umzug ins ferne Deutschland im Jahre 1993 überhaupt nicht möglich schien. Ich bin in einer Zeit und Gegend aufgewachsen, wo Reisen in die fernen Länder in Köpfen der Menschen nicht als Möglichkeit gespeichert wurden.

Es war für mich nie ein Problem Deutsche zu sein. Das habe ich so von Kind auf gelernt und akzeptiert – meine Mutter ist Russin und mein Vater ist Deutscher. Als ich zur Schule ging, habe ich gelernt, dass mein Nachname doch ein wenig außergewöhnlich ist – ich heiße nämlich Schweizer und nicht Schweizer´ova, wie das bei den russischen Namen üblich ist. Allerdings, ging es mindestens der Hälfte meiner Klasse genauso wie mir – Russland war und ist ein Vielvölkerland.

Meine zweite Konfrontation mit meiner Herkunft fand dann zwei Jahre später und circa zehn tausend Kilometer weit westlich statt. Aus einmal wusste ich gar nicht mehr genau wer ich bin und wo ich herkomme.

Meine Familie ist nach Deutschland umgesiedelt.

Wenn ich mir jetzt die Fotos von meiner ersten Zeit in Deutschland anschaue – sehe ich eine erwachsen aussehende 18-jährige Frau, die Kinderklamotten trägt.


Sprechen Sie Deutsch? Ein neues Leben anfangen und sich beruflich umorientieren.

Mein Vater hat mit uns nie Deutsch gesprochen. Wenn sein Bruder zum Besuch kam, haben sie sich in einer, für uns Kinder, „geheimen und lustigen Sprache“ unterhalten, weil sie ein Dialekt gesprochen haben. Mein Wortschatz begrenzte sich auf ein paar Wörter aus den Kriegsfilmen.

Ich bin nach Deutschland gekommen, ohne ein einziges Wort Deutsch zu können. Ich konnte nicht kommunizieren! Ich war im Schock erstarrt und wollte unsere Wohnung überhaupt nicht verlassen. Mein kleiner Bruder und ich saßen stundenlang vor dem Fernseher und haben uns unterschiedliche Sender reingezogen und versucht, Lieder, die wir auf dem Musiksender Viva gehört haben, zu übersetzen.

Jetzt können wir beide darüber lachen, damals hat es mich fertig gemacht.


Endlich die Chance, eine richtige Deutsche zu werden

In den nächsten Jahren habe ich mich oft als Außenseiterin gefühlt. Ich bin immer wieder zwischen „Richtig Deutsch sein“ und „Richtig Russisch sein“ hin und her gewandert. Eigentlich war ich immer eher an Menschen und nicht an Herkunftsländern interessiert. Das wurde mir in meiner Studienzeit bewusst.


Was machen Sie beruflich, gnädige Frau?

In meinem „früheren“ Leben war mir immer klar, dass ich studieren werde. In Deutschland musste das nicht unbedingt sein. Meine Tante hat mir unbewusst eine ziemliche Motivation verpasst – nicht nur zu studieren, sondern auch meinen eigenen Weg zu gehen. Sie meinte, dass ich doch die Ausbildung zur Friseurin machen soll, dann werde ich ein festes Einkommen und immer die Möglichkeiten haben, ein wenig Geld dazuzuverdienen.

Was? Ich? Friseurin? Ich war empört…

Und habe nach ein paar Jahren ziemlich gutes Abiturzeugnis in der Tasche und ein Wirtschaftsstudium absolviert. 


Berufliche Wanderung – persönliche Verwandlung

Der erste Job – ein Traumjob führte mich nach Wien. Eine wunderschöne Stadt, tolle Menschen, die mich sehr dabei unterstützt haben, mein eigenes Leben zu führen und mich selbst zu finden. Ich habe mich mit voller Freude in die Arbeit und das Leben in einer Hauptstadt gestürzt. Ich war unter anderem für die Geschäftsbeziehungen mit Russland zuständig und endlich war mein Russisch gebraucht. Ich war am richtigen Platz.

Russland war ein wichtiger Markt für dieses Unternehmen und so wurde mir angeboten, bei der Öffnung einer neuen Verkaufsniederlassung in Russland mitzumachen.

So kam ich nach Sankt-Petersburg und bin fast vier Jahre in Russland geblieben. Ich kam in einer ganz anderen Rolle – als Büroleiterin eines deutschen Konzerns zurück und wurde erstmal mit einem Land konfrontiert, dass ich so gar nicht gekannt habe.

Es folgten Jahre beruflicher Achterbahnfahrt mit Höhen und Tiefen, Erfolgen und Misserfolgen, wunderbaren Menschen, die ich kennengelernt habe. Ich habe für mich ein neues Russland entdeckt und schätzen gelernt. Nach vier Jahren kam ich zurück nach Wien, weil ich meine Zukunft in Europa gesehen habe.


Das Unglück kommt selten allein

Schon wieder ein altes, neues Leben. Ich war müde, ausgelaugt und hatte keine Lust, weitere berufliche Herausforderungen anzunehmen. In der gleichen Zeit ist noch mein Vater ganz plötzlich an einer Lungenembolie gestorben. Unerwartet hat es mich in ein tiefes schwarzes Loch geworfen. Ich saß alleine in einer wunderschönen Wohnung in Wien, ohne Perspektiven, ohne Familie, ohne Ideen, wie ich mein Leben eigentlich leben möchte. Gott sei Dank, waren immer Menschen da, die mich immer wieder unterstützt und aufgebaut haben.

Diese Zeit war aber auch dazu da, zu erkennen, niemand sonst außer mir kann über mein Leben bestimmen und ich bin diejenige, die Entscheidungen trifft.

Neuer Wind weht in die richtige Richtung

Irgendwann kam die Entscheidung, sich selbstständig zu machen. Toll! Ich habe mich sehr gefreut, selbst und ständig zu arbeiten. Ich habe nur einen entscheidenden Fehler gemacht, die auch viele GründerInnen machen und zwar – ich habe mich als Expertin für Markteintritt in Russland positioniert was quasi mein letzter angestellten Job war, obwohl ich eigentlich diesen Job nicht mehr machen wollte.

Parallel dazu habe ich angefangen als Trainerin und Gründungsberaterin zu arbeiten und es hat mir einen großen Spaß gemacht.

Der Vorteil davon, dass meine Karriere einen Knick hatte, habe ich erst später erkannt – ich habe plötzlich Zeit für andere Dinge bekommen. Genau in der Zeit, wo es bei mir beruflich gar nicht gut ging, habe ich meinen Partner kennengelernt und mich der weiteren Herausforderung einer multikulturellen Partnerschaft mit einem Patchworktouch gestellt.

Mein Familienglück wurde perfekt, als ich vor knapp zwei Jahren Mutter wurde. In der Zeit der Schwangerschaft hatte ich mein Business neuüberdacht und erkannt, wo meine wahre Berufung liegt – ich unterstütze gerne Frauen, die gerade dort stehen, wo ich schon vor 10 Jahren gestanden bin und die „Hausaufgaben des Lebens“ bereits gemacht habe.

Ich lebe mittlerweile mit meiner Familie in Wien, mein Sohn wächst zweisprachig auf. Ich bin als Frauencoach selbstständig und helfe Frauen dabei, ihren eigenen Weg zu finden und diesen auch zu gehen.

Ich bin 40 Jahre alt, fühle mich noch zu jung, um eine Biographie zu schreiben, aber reif genug, um meine Geschichte mit fremden Menschen zu teilen und anderen Frauen Mut machen, ihren eigenen Weg zu gehen.

Ist meine Integration vollzogen? Wer redet hier über Integration?


Ich habe diesen Beitrag im Sommer 2018 für einen Geschichtswettbewerb von Frauenmagazin Emotion geschrieben.

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In meinem Blog dreht sich alles um Frauen, die ihren Weg gehen. Die Themen sind so vielfältig, wie das Leben: Vereinbarkeit von Familie und Karriere, Selbstständigkeit und berufliche Herausforderungen der Frauen, die sich nicht zwischen Kinder und Karriere entscheiden möchten, Hochsensibilität und leben mit besonderen Kindern. Dazu gibt es Einblick in meine Onlinecoaching-Praxis: Case Studies und Selbstcoachingtools, die karriereorientierte Frauen dabei unterstützen, ein glückliches und selbstbestimmtes Leben zu führen. 

1 Kommentar zu „Meine Suche nach Integration“

  1. Pingback: Über Krieg(e) in meinem Leben - Natalia Schweizer | Female Career Coaching

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